Kinderfragen

Als ich ein Kind war

- mit kollektiv gesenktem Haupt; aufgrund der auf uns lastenden und von oben
verordnetem Schuldbewustseins für die Greueltaten der für mich geschichtlichen
Generationen – und doch mit der Gnade der späten Geburt gesegnet, wie ein "Ehrenmann"
dessen Namen man damals noch nicht kannte und heute nicht mehr kennen mag –
fragte ich mich: "Warum haben die es denn nicht verhindert?"


Als ich ein Kind war

- Fragen stellte in gefühlter und tatsächlicher Unschuld - im Glauben daran,
daß es das Gute geben und dieses am Ende immer gewinnen würde. In dem sicheren
Bewußtsein, daß Erwachsene in ihrer unendlichen Weisheit aus den Erfahrungen der
beiden Weltkriege richtig handeln werden.

Als ich ein Kind war

- mit wohlgenährter Angst vor dem großem Bären, der in seiner Aggression Zähne
zeigend mit den Pranken am eisernen Zaun rüttelte. Aber auch mit der hoffenden
Sicherheit oder sicheren Hoffnung auf den Schutz, der sich unter den Flügeln des
Weißkopfseeadlers bietet. So lugte unsere kükenhafte Nation über den Nestrand,
plusterte die Daunen, ließ sich füttern bis sie fett war und kümmerte sich
hauptsächlich um die eigene Verdauung.



Als ich kein Kind war

- mit Genugtuung zusah, wie sich die vermeintliche, um das Nest schleichende
Bedrohung selbst aushungerte. Miterleben durfte, daß historisch hysterisch
unser Land flügge werden durfte und es unbeholfen flügelschlagend gegen den
nächsten Baum flog, um zwar unsanft, aber immerhin zu landen. Gleich darauf
Unrecht erkennend - spätpubertierend - die Stimme gegen die Ziehmutter erhebend,
endlich “Hotel-Mama” verlassend auf den eigenen wackeligen Beinen stand.



Als ich kein Kind war

- mit verzweilfelter Bestürzung ansehen mußte, wie die Mama sich vom Paulus
zum Saulus wandelnd, die politische Richtung dem Retro-Design anpassend, in
alte Kolonialzeiten verfiel. Durch die Nachrichten über die zukünftige
Verteilung der Beute angeregt, drängte sich zynisch die Frage auf, ob die
Sklaverei nun auch wieder das Mittel der Wahl sei, um einen vernüftigen
Verwendungszweck des - natürlich gereinigten - frisch eroberten humangenetischen
Materials zu finden.



Als ich kein Kind war

- fragte ich mich, ob alles so passieren wird, wie in den vielen Prophezeiungen
beschrieben. Machte im Geiste einen Haken an die Checkliste der Apokalypse und
fragte mich, was ich - wenn sich unsere Gegenwart in den Plusquamperfekt verzogen
hätte und falls ich alles er- und überleben sollte - also, was ich sagen könnte,
wenn mich ein Kind in unserer Wohnhöhle am Feuer sitzend fragen würde:



"Warum habt ihr es denn nicht verhindert?"



Und jetzt in dieser Höhle, bei dem Blick in die traurigen Kinderaugen, füllen
sich die Augen mit einer schuldigen - einer mitschuldigen - Feuchte und ich weiß,
daß keine Anstrengung zu groß hätten sein dürfen, anstatt damals zwar ausreichend
empört über den kriegerischen Akt, aber trotzdem Scheuklappen tragend den eigenen
Dingen zugewandt gewesen zu sein.



Wie hätten wir es verhindern können?
Wie hätten 6 Milliarden Individuen es verhindern können?
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